Fest steht: Die oben genannten Zahlen können bei der menschengerechten Arbeitsgestaltung nicht unberücksichtigt bleiben. Um psychisch erkrankte bzw. vulnerable junge Menschen sinnvoll einsetzen zu können, ist es von großer Bedeutung die Belastungssituation am Arbeitsplatz möglichst genau zu kennen und entsprechend abzustimmen. Die Psyche betreffende Aspekte treten dabei mehr und mehr in den Vordergrund.
Um schädigender Stigmatisierung am Arbeitsplatz entgegenzuwirken bietet es sich im Arbeitskontext an nicht pauschal von Störungen zu sprechen, sondern das Konzept der Neurodivergenz / Neurodiversität zu bemühen. Neurodivergenz meint, wenn dem Gehirn zugeschriebene Funktionen bei einer Person anders sind, als es gesellschaftlich erwartet wird. Das betrifft beispielsweise das Autismus-Spektrum, AD(H)S, Dyskalkulie oder Hochbegabung. Der Arbeitsplatz kann durch diesen Ansatz gezielt und wertfrei auf betreffende Personen abgestimmt werden. Bei häufig vorkommenden Angststörungen, depressiven Störungen, Verhaltensstörungen (z.B. Impulskontrolle und Essstörungen) kann ebenfalls der Versuch unternommen werden, die Arbeitsbedingungen entsprechend abzustimmen.
Die Arbeitsplatzevaluierung bzgl. jugendlicher Arbeitnehmer:innen ist in diesem Kontext ein wichtiges Werkzeug. Sie unterscheidet sich lediglich insofern von der „allgemeinen“ Evaluierung, dass Alter, der Stand der Ausbildung und der Unterweisung der Jugendlichen explizit mit zu berücksichtigen sind (§ 1 Abs. 6 KJBG-VO). Demnach können mitunter die Maßnahmen bei vorliegenden Beschäftigungsverboten personenbezogen sein, wenn dies notwendig ist. Dabei sind auch psychische Aspekte zu berücksichtigen (gem. § 2 (7) & (7a) ASchG). Gemäß § 23 Abs. 1a KJBG haben Dienstgeber:innen dabei alle erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der Sicherheit, der Gesundheit und der Sittlichkeit zu treffen. Besonders bedeutsam werden die Unterschiede zur „allgemeinen“ Evaluierung, wenn wir die Leistungsfähigkeit der Jugendlichen miteinbeziehen. Gem. § 5 KJBG-VO ist der Schutz vor Belastung, die die psychische oder physische Leistungsfähigkeit Jugendlicher übersteigen zu gewährleisten. Typische physische Belastungen werden genannt und beinhalten beispielsweise: Manuelle Lasthandhabung, Stemmarbeiten mit nicht kraftbetriebenen Arbeitsmitteln, besonders belastende Hitze und Arbeiten in Räumen mit Temperaturen unter -10°C.
Doch welche psychischen Belastungsfaktoren sind für Jugendliche besonders gesundheitsschädlich? Hier können für die Gesundheit im Betrieb einige Denkanstöße gegeben werden.
Was ist bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen anders?
Auf Basis der uns zur Verfügung stehenden entwicklungspsychologischen Erkenntnisse wird davon ausgegangen, dass die Fähigkeit zur adäquaten Emotionsregulation bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen noch anders funktioniert und psychische Ausnahmesituationen eine stärkere Beanspruchung verursachen. Außerdem haben junge Menschen eine Reihe an Entwicklungsaufgaben zu erfüllen, deren (Nicht-)Erfüllung sie im weiteren Lebensverlauf beeinflusst. Konkret bedeutet dies, dass mögliche arbeitsbedingte Belastungsfaktoren, wie z.B. Notsituationen, Belästigung, Gewaltübergriffe (auch psychisch/verbal), Arbeit mit Nacktheit, Interaktionsarbeit mit schwierigem Klientel, Arbeit mit Verstorbenen etc. ein Risiko für die psychische Gesundheit und Entwicklung der jungen Menschen darstellen können. Weitere hoch ausgeprägte Belastungsfaktoren können in Frage kommen. Ein Grund dafür ist das mit höherer Wahrscheinlichkeit aktivierte limbische System (Stichwort: „fight, flight or freeze“- Reaktion) als Antwort auf sehr herausfordernde Belastungssituationen. In welchem Alter die Hirnentwicklung genau abgeschlossen ist wird derzeit weiter erforscht. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Entwicklung des präfrontalen Kortex, welcher u.a. für die Fähigkeit einer besonnenen Abwägung nötig ist. Bisher ging man davon aus, dass dieser mit 24 - 25 Jahren voll entwickelt ist, ein neuerer Befund deutet daraufhin, dass die exekutiven Funktionen bereits früher mit Erwachsenen vergleichbar ausgeprägt sind (18 – 20 Jahre).
Jugendliche in der Arbeit müssen vor gesundheitsschädlichen und damit auch für die persönliche Entwicklung schädigenden Bedingungen geschützt werden. So sehen es die geltenden Gesetze zum Arbeitnehmer:innenschutz vor. Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht ist es indiziert, arbeitsbedingte, insbesondere arbeitsbedingte emotionale Belastung der Jugendlichen für deren Entwicklungsaufgaben und Gesundheit nicht beeinträchtigend zu halten. Unter Berücksichtigung der aktuellen Studienlage, betrifft das auch noch 20-jährige Arbeitnehmer:innen.
Weiterführende Links & Quellen:
Arbeitsinspektion (2023). Kinder und Jugendliche. https://www.arbeitsinspektion.gv.at/Personengruppen/Kinder_und_Jugendliche/Kinder_und_Jugendliche.html
Klatt, R. (2023). Exekutive Funktionen. Hirnreifung des Menschen ist früher abgeschlossen als gedacht. https://www.forschung-und-wissen.de/nachrichten/medizin/hirnreifung-des-menschen-ist-frueher-abgeschlossen-als-gedacht-13378355
Konrad, K., Firk, C., Uhlhaas P.J. (2013): Hirnentwicklung in der Adoleszenz. Neurowissenschaftliche Befunde zum Verständnis dieser Entwicklungsphase. https://www.aerzteblatt.de/archiv/141049/Hirnentwicklung-in-der-Adoleszenz
Schultz, N. (2017). Baustelle im Kopf. https://www.dasgehirn.info/grundlagen/pubertaet/baustelle-im-kopf
Tervo-Clemmens, B., Calabro, F.J., Parr, A.C. et al. A canonical trajectory of executive function maturation from adolescence to adulthood. Nat Commun 14, 6922 (2023). https://doi.org/10.1038/s41467-023-42540-8
Wagner, G., Zeiler, M., Waldherr, K. et al. Mental health problems in Austrian adolescents: a nationwide, two-stage epidemiological study applying DSM-5 criteria. Eur Child Adolesc Psychiatry26, 1483–1499 (2017). https://doi.org/10.1007/s00787-017-0999-6
Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft
Abteilung II/A/4 - Arbeitsmedizin, Arbeitspsychologie